Von Boris Nad
Irgendwo in einer unbestimmten und fernen Gegend, von welcher manche denken, sie liege im Norden, andere, sie liege im Osten, befindet sich eine Stadt, welche alles übertrifft, was je von Menschen geschaffen wurde. Über der Stadt ist ein Turm, von welchem aus man jedes besiedelte Land sehen kann und sogar dunkle und unmenschliche Felder, welche das Ende der Welt anzeigen.
In seinem Zentrum ist ein Feld, welches die Götter zum Spielen nutzen. Doch darüber ist die Halle mit zwölf Thronen, von denen der höchste dem Mächtigsten unter den Göttern gehört. Sein Name bedeutet „der Eine“, und er ist der Vater der Götter und Menschen. Während er an der Tafel sitzt, ruhen zwei Raben auf seinen Schultern; sie berichten ihm alles, was in der Welt geschieht. Diese Halle ist von zahlreichen Palästen umgeben. Eisige Wellen brausen über einige von ihnen, andere hingegen sind in den Himmeln errichtet oder an der Meeresküste. Es gibt dort auch ein großes Tor unter welchem sich ein Gehölz mit roten und goldenen Blättern befindet. Es führt, wie auch immer, zu einer anderen und geräumigeren Halle, wo jeden Tag Feste veranstaltet werden, mit tapferen Kriegern als Gästen. Es sind Krieger, welche in der Schlacht getötet wurden; der Mächtigste der Götter ist der Vater der gefallenen Krieger. Sie verspeisen Eberfleisch, an welchem es nie mangelt, gekocht in einem magischen Kessel. Der Vater der Götter ißt nicht vom Eber, er trinkt nur Wein; von seinem eigenen Fleisch füttert er zwei gefräßige Wölfe, die ihm immer und überallhin folgen.
Es ist Asgard, die Stadt der Götter – eine Stadt, von Giganten und Göttern gebaut. Es ist unmöglich, all die Wunder und Schätze zu beschreiben, die sie enthält. Gleich neben Odin steht der unbesiegbare, mächtige Thor, der den Wohnsitz der Götter mit seinen eisernen Handschuhen und dem tödlichen Mjöllnir verteidigt – dem Holzhammer oder Hammer, der stets in die Hand der Person zurückkommt, die ihn geworfen hat. Sein Besitz nennt sich Thrudvang oder Thrudheim, was „Kraftfeld“ bedeutet. Die Göttin Idun verwahrt in ihrem Schrein die goldenen Äpfel, dank welcher die Götter nicht altern. Am südlichen Ende des Himmels ist der Palast Gimle, „heller als die Sonne“, welcher an seinem Ort bleiben wird, auch wenn die Welt untergeht. Dort ist auch ein Reh, welches jeden Tag die Blätter des heiligen Eschenbaumes äst (die Wurzeln dieses Baumes reichen bis hinab in die dunkle Unterwelt), und von dessen Hörnern Tau tropft, die Quelle aller Flüsse in Walhalla. Doch am Ende des Himmels, neben der Brücke Bifröst, ist ein Palast, wo Heimdall sitzt, der Wächter der Götter, der sein wundersames Horn blasen wird, wenn die Schlacht zum Ende der Welt beginnt.
Die Beschreibung Asgards, mit all ihren fantastischen Details, verdanken wir größtenteils Snorri Sturluson, dem Isländer, welcher zwischen 1222 und 1225 die Prosa-Edda geschrieben hat, einen Komplex von Mythen und Glaubensvorstellungen der Menschen des alten Skandinaviens. Tatsächlich waren diese Glaubenslehren den Stämmen und Nationen der gesamten germanischsprachigen Gebiete geläufig , vielleicht sogar darüber hinaus. Es sollte vermerkt werden, daß die Edda für lange Zeit von Gelehrten als Fiktion ihres Autors abgelehnt worden war – mindestens bis zur Entdeckung eines noch älteren Manuskripts, ebenfalls in Island, vier Jahrhunderte nach dem Tod Sturlusons, 1643, durch den isländischen Bischof Sveinsson. Dieses Buch wurde die Ältere Edda genannt, im Gegensatz zu Sturlusons Jüngerer, und wurde sogleich in den eddaischen Kreis der Poesie aufgenommen, welcher schließlich Gegenstand seriöser Studien wurde.
Die Edda enthält die Geschichte der Asen, eine Art Genealogie der Götter, sowie Informationen über ihre Wanderungen und die Länder, welche sie durchquert haben. Sturlusons Geschichte beginnt in einer Region nördlich des Schwarzen Meeres. Dieses Meer „teilt die Welt in drei Teile: der eine nach dem Osten hin wird Asien genannt und den im Westen nennen manche Europa und manche Aeneas. Nördlich des Schwarzen Meeres ist Groß- oder Eisschweden“; im Gegensatz zu Schweden in Skandinavien. Großschweden oder Svitjod, oder Svealand, bedeutet lediglich geweihte oder heilige Erde. Dies ist die Bühne für zukünftige große Ereignisse. Wir lesen weiter in Sturlusons Schrift „Erdkreis“, daß durch jenes Schweden der Fluß Tanais fließt, welcher einmal Tanakvisl oder Vanakvisl genannt wurde (und es ist der Fluß Don, welcher ins Schwarze Meer mündet).
Der Autor erklärt, die Region um die Mündung des Don wurde Land der Wanen oder Siedlung der Wanen genannt; jene waren zuerst die Rivalen und später die Verbündeten der Asengötter. Der erste Krieg in der Welt begann zwischen diesen. Die Asen lernten magische Fähigkeiten von den Wanen: die Wanen sind ältere und weisere Götter. Und weiter: „das Land in Asien östlich des Tanakvisl wird Land der Asen oder Siedlung der Asen genannt,“ seine Hauptstadt ist Asgard und „dort herrschte der Eine namens Odin. Dort war ein großer Tempel“. Und auch: „Nach einem alten Brauch gab es dort zwölf Priester. Ihre Aufgabe waren Opferrituale…“ (Ynglingasaga, II).
Die in der Jüngeren Edda enthaltene Geschichte ist überaus genau, nicht nur geographisch, sondern auch chronologisch. Odin verließ sein Land, denn er wußte, daß, gemäß der Prophezeiung, seine Nachkommen den nördlichen Teil der Welt bewohnen würden. Er verließ seine beiden Brüder in Asgard. Sein Sohn wurde Skjold genannt und er herrschte über Dänemark; Skjolds Enkel hieß Frodi und herrschte in der Zeit des Kaisers Augustus – „als Christus geboren wurde“. Die von uns erwähnten Ereignisse geschahen im ersten Jahrhundert AD. Wie eine alte Chronik behauptet, führte der Weg Odin durch das Land der Sachsen. Er ernannte seinen Sohn Beldur oder Balder zum Herrscher Westfalens. Er kam über Dänemark nach Schweden (jenem in Skandinavien), welches bis dahin von einem gewissen Gylfi beherrscht worden war. Doch Gylfi, besiegt durch die Weisheit und Schönheit der Asen, übergab die fürstliche Gewalt an Odin und brach auf nach Asgard; er begab sich auf diese Fahrt „im Geheimen, verkleidet als ein alter Mann“. Schließlich, nach einer strapaziösen Reise, entdeckte er das „hohe Schloß mit einem Dach, bedeckt mit vergoldeten Schilden“. Darin traf er zahlreiche Würdenträger, welche Festgelage hielten oder mit Waffen kämpften, genau wie jene im mythischen Walhall.
Odins ruhmreiche und lange Herrschaft endete folgendermaßen: in seinem neuen Land starb er an einer Krankheit. Vor seinem Tod sagte er seinen Untertanen, daß er zurückgehe zum Sitz der Götter (wir lesen dies in der Ynglingasaga) und versprach, er würde dort weiterhin seinen Freunden dienen. Nach seinem Tod erschien er Schweden vor großen Schlachten, „manchen den Sieg bringend, anderen, um sie zu sich zu rufen“. Sein Leichnam wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt, was „ein großartiger Anblick war“. Er überließ seinen Thron Njördr aus Noatun, der auch ein Wane war. Einer der Nachkommen Njördrs, Sveigdir, wiederholte Gylfis Leistung und ging direkt ins Land der Türken und nach Großschweden, um die alte Residenz Odins zu finden. Die Reise dauerte fünf ganze Jahre. In Svitjod in Großschweden fand er zahlreiche Stammesangehörige und heiratete eine Frau namens Wana (ihr Name sagt uns eindeutig, daß sie von der göttlichen Rasse der Wanen war, und Wanen oder Wjatitschen sind bekanntermaßen Slawen oder die Vorfahren der Slawen).
Sind Götter die Väter der Menschen oder sind Menschen die Väter der Götter? Schaffen die Menschen Götter, oder schufen, im Gegenteil, die Götter die Menschen als ihre Gefährten, Gehilfen und Kameraden? Die Geschichte von Odin und seiner Sippe, die wir gerade vorgestellt haben, ist zweifellos richtig. Es kann auch eine Erinnerung an vergöttlichte Herrscher und Ahnen sein, doch dies stellt keineswegs den Kult in Frage, den Glauben an die Göttlichkeit des Vaters der Götter und Menschen.
* * * Der Schilderung der alten Chronik folgend glaubte der russische Forscher Wladimir Schtscherbakow, das mythische Asgard gefunden zu haben. Er fand es genau an dem Ort, auf welchen die Chronik über die Asen mit dem Finger zeigt. Es ist Nisa, die alte Hauptstadt von Parthia – dem Rivalen Roms im Osten und neben Rom das größte und ausgedehnteste Reich jener Zeit.
Wie von Schtscherbakow festgestellt ist die Dürftigkeit historischer Quellen über die Glaubensvorstellungen der Parther niederschmetternd. Doch die archäologische Rekonstruktion der parthischen Hauptstadt und ihrer Kultplätze kommt rettend hinzu. Ohne mich an all den architektonischen Gemeinsamkeiten zwischen dem mythischen Asgard und dem alten Nisa (wohlgemerkt dem alten Nisa, doch die Lage der Kultstätten in Nisa ist nahezu identisch) aufzuhalten, möchte ich erwähnen, daß es sich um eine wirkliche „Kopie“ Walhallas handelt, es ist ein mysteriöser Rundtempel. Die Umrisse der Mauern sind viereckig, doch in ihnen befindet sich ein kreisförmiger Raum – zwölf Meter hoch. Auf der zweiten Etage dieser Halle waren Säulen und in Nischen platzierte farbige Tonstatuen. Dies sind Statuen der Götter oder der vergöttlichten Ahnen. Die alten Parther förderten den Ahnenkult: vergöttlichte Vorfahren, Asen, begleiteten hier die Wächter und die anderen Krieger. Dies waren die Statuen, die, wie in anderen Tempeln, den Effekt ihrer Gegenwart hervorgerufen haben.
Der selbe Forscher bemerkte ein anscheinend zufälliges Detail: Odin, so wie es in der Edda niedergeschrieben steht, nahm an Gelagen an der Seite seiner Krieger teil. Doch er aß dort nie, Wein war ihm genug. Mit anderen Worten: seine Gegenwart war symbolisch, nicht wirklich. Eine Reihe hochkomplexer und offensichtlicher Übereinstimmungen mag vielleicht noch nicht beweisen, daß in den Beschreibungen des Asgard skandinavischer Mythen die Erinnerung des tatsächlichen Asgard wirklich erhalten ist – des Sitzes der Götter im alten Nisa, der Hauptstadt von Parthia. Doch sie untermauern die Verwandtschaft der Glaubensvorstellungen räumlich so weit entfernter Völker – Vorstellungen, die, wie in der Edda betont, im Gebiet über dem Schwarzen Meer ihre Ursprünge hatten, welches der authentische Lebensraum der Asen und Wanen ist. Chinesische Chroniken der Tangdynastie nannten den parthischen Staat – Ansi.
aus dem Englischen übersetzt von Ruedi Strese
Unser Autor: Der serbische Schriftsteller und Publizist Boris Nad wurde 1966 in Vinkovci, Slawonien, geboren. Er studierte in Zagreb und Belgrad und schloß das Studium an der Universität Belgrad ab. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht sowie zahlreiche Essays und Artikel in verschiedenen Zeitschriften.
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